Wie unterschiedliche Formen von Trauma vom Nervensystem als Gefahr wahrgenommen werden — und wie daraus chronische Überempfindlichkeit entstehen kann

Chronic primary pain is characterized by altered central processing rather than by ongoing tissue damage.
— Treede RD et al. (2019). Chronic pain as a symptom or a disease: The IASP Classification. Pain, 160(1).

Warum und wie das Nervensystem Traumata speichert.

Unser Gehirn und Rückenmark bewerten ständig Reize — ob sie harmlos sind oder potenziell gefährlich. Reize aus dem Körper (z. B. Verletzungen, Überlastung, Entzündungen) ebenso wie psychische oder emotionale Belastungen können dabei als Warnsignal interpretiert und gespeichert werden. Wenn diese Warnsignale stark oder wiederholt kommen, kann das zentrale Nervensystem (ZNS) dauerhaft seine Verarbeitungsweise verändern — mit weitreichenden Folgen.

Diese Erkenntnis beruht auf dem Konzept der Neuroplastizität: Nervenzellen und Verschaltungen im ZNS können sich funktionell und strukturell an veränderte Reize anpassen — ähnlich wie beim Lernen oder Gedächtnis. OUP Academic+2SpringerLink+2

Zentrale Sensibilisierung & Langzeitpotenzierung — neurophysiologische Mechanismen

Was versteht man unter Central Sensitization (Zentrale Sensibilisierung)?

  • „Zentrale Sensibilisierung“ beschreibt eine gesteigerte Erregbarkeit und synaptische Effizienz von Neuronen in nozizeptiven (Schmerz-)Bahnen — also eine anhaltende Überempfindlichkeit des ZNS. PubMed+2PubMed+2

  • Dadurch können Reize, die normalerweise harmlos wären, als schmerzhaft wahrgenommen werden (Allodynie), oder sonst schmerzhafte Reize deutlich verstärkt wahrgenommen werden (Hyperalgesie). PubMed+1

  • Diese veränderte Erregbarkeit kann durch Entzündungen, Verletzungen, mechanische Belastung oder nervale Irritation ausgelöst werden — also genau durch die verschiedenen von dir genannten Traumaformen. PubMed+2rheuma-schweiz.ch+2

Rolle der Long‑Term Potentiation (LTP) im nozizeptiven System

  • LTP — ein Mechanismus, der ursprünglich aus der Erforschung von Lernen und Gedächtnis stammt — beschreibt die Verstärkung der synaptischen Übertragung zwischen Nervenzellen nach wiederholter oder intensiver Reizung. SpringerLink+2OUP Academic+2

  • Im Kontext von Schmerz: LTP an nozizeptiven Synapsen (z. B. im Hinterhorn des Rückenmarks) kann bewirken, dass ehemals schwache oder subthreshold Eingänge plötzlich genügen, um Schmerzsignale auszulösen. PubMed+2eLife+2

  • In einfachen Worten: Das Nervensystem „lernt“, empfindlicher zu reagieren — ein „Schmerzgedächtnis“ entsteht. SpringerLink+2deutsches-kinderschmerzzentrum.de+2

Beteiligung von Glia, Entzündung & neurochemischen Veränderungen

  • Bei manchen Formen der zentralen Sensibilisierung spielen gliale Zellen (Astrozyten, Mikroglia) eine wichtige Rolle: Sie können Entzündungsmediatoren (Zytokine, Chemokine) freisetzen, die die Erregbarkeit von Nervenzellen erhöhen. PubMed+2Lippincott Journals+2

  • Solche neuroinflammatorischen Prozesse können eine chronische Schmerzverstärkung begünstigen — und erklären, dass Schmerzen auch langfristig bestehen, selbst wenn das ursprüngliche Gewebe längst verheilt ist. PubMed+1

Relevanz für unterschiedliche Traumata: physisch, mechanisch, chemisch & psycho-emotional

Weil der Mechanismus der Sensibilisierung und LTP nicht per se auf eine bestimmte Schmerzursache beschränkt ist, kann fast jede Art von Trauma — sei es:

  • physisch (z. B. Verletzung, Operation),

  • mechanisch (Fehlbelastungen, Überlastung, Gelenk-/Muskeldysfunktionen),

  • chemisch (Entzündungen, Reizungen, postoperative Prozesse),

  • oder psycho-emotional (Stress, Angst, chronische psychische Belastung) —

im Zusammenspiel mit individuellen Faktoren zu einer dauerhaften Überempfindlichkeit führen.

Dies wird auch von dem aktuellen klinischen Konzept der Nociplastic Pain gestützt: Der Schmerz entsteht nicht (mehr) primär durch eine reale Gewebeschädigung, sondern durch Fehlregulation im Nervensystem. MSD Manuals+2PubMed+2

Welche Symptome können aus solchen Prozessen entstehen?

Je nachdem, welche Systeme betroffen sind — sensorisch, motorisch, vegetativ, emotional — kann die Symptomatik sehr vielfältig sein:

  • Erhöhte Schmerzempfindlichkeit: Hyperalgesie, Allodynie, Schmerz aus harmlosen Reizen

  • Chronische Schmerzsyndrome: Schmerzen ohne klare Gewebeschädigung, Schmerzen wechselnder Lokalisation, diffuse Beschwerden

  • Muskel-/Bewegungseinschränkungen: Durch Schutzspannung, reflektorische Muskelanspannungen, Schonhaltungen

  • Vegetative Symptome: Erhöhte Stressreaktionen, Schlaf- und Erholungsprobleme, hormonelle Dysregulationen (über permanente Aktivierung des Stresssystems) — da das ZNS auch Einfluss auf das autonome und endokrine System hat

  • Emotionale / psychische Symptome: erhöhte Reizbarkeit, Angst, Stress, erhöhter Alarmzustand bei Reizen, manchmal Überforderung oder Erschöpfung — weil das ZNS ständig „auf der Hut“ ist und sensorische + emotionale Verarbeitung verschränkt laufen

Solche Symptome sind durch die neuroplastische Fehlregulation oft schwer klar einer strukturellen Pathologie (z. B. Gelenkschaden) zuzuordnen — was Therapie und Diagnose herausfordernd macht. In vielen Fällen bestehen Mischbilder. MSD Manuals+2SpringerLink+2

Warum ein funktionell-neurologischer / neurophysiologischer Ansatz sinnvoll ist (z. B. P-DTR)

  • Weil bei Schmerzchronifizierung nicht nur ein struktureller Defekt, sondern vor allem eine Fehlregulation im Nervensystem vorliegt — etwa über veränderte synaptische Übertragung, veränderte Sensorik, neuroplastische Prozesse und Fehlfilterung von Reizen. Das heißt: Ein Ansatz, der neurologisch auf die Reizverarbeitung einwirkt, kann dort ansetzen, wo das Problem liegt.

  • Neue Erkenntnisse zeigen, dass Schmerzen nicht einfach nur „geheilt“ werden, wenn man das Gewebe heilt — das Nervensystem kann unabhängig davon in einem sensibilisierten Zustand bleiben, wenn keine Re-Kalibrierung erfolgt.

  • Funktionell-neurologische Methoden (z. B. Sensomotorik, Reizsteuerung, Reflex- und Reizmodulation, aktive Re-Kalibrierung von Bewegungs- und Haltungsmustern, Regulation des vegetativen Nervensystems) können helfen, dieses „Schmerzgedächtnis“ zu verändern oder zu deaktivieren.

  • Eine solche Herangehensweise entspricht dem aktuellen Verständnis von Schmerz als biopsychosoziales und neurophysiologisches Phänomen — und fördert damit eine ganzheitliche und nachhaltige Behandlung statt rein symptomorientierter Lösungen.

Literaturauswahl / Referenzen (für Fußnoten oder Quellenangaben)

  1. Woolf CJ. Central sensitization: a generator of pain hypersensitivity by central neural plasticity. The Journal of Pain. 2009. PubMed

  2. Sandkühler J. Understanding LTP in pain pathways. Molecular Pain. 2007. SpringerLink

  3. A recent editorial: Pain Science in Practice (Part 5): Central Sensitization II – zur Rolle von LTP und zentraler Sensibilisierung bei chronischem muskuloskeletalem Schmerz. PubMed

  4. Neuroinflammation and Central Sensitization in Chronic and Widespread Pain – zur Rolle von Glia und neuroinflammatorischen Prozessen. PubMed+1

  5. Central sensitization: implications for the diagnosis and treatment of pain. Schmerzmedizinische Übersichtsarbeit – zur klinischen Relevanz bei chronischen Schmerzstörungen. PubMed

  6. Central sensitization in patients with chronic musculoskeletal pain. Epidemiologische Studie zur Bedeutung zentraler Sensibilisierung bei muskoskelettalen chronischen Schmerzen. PubMed

  7. Pain Pathways and Nervous System Plasticity: Learning and Memory in Pain. Reviewartikel, der die Überlappung von Schmerz, Gedächtnis und neuronaler Plastizität beschreibt. OUP Academic+1

  8. Pain Reprocessing Therapy – Schmerz neu denken. Neue therapeutische Perspektive speziell für noziplastischen bzw. zentralisierten Schmerz. SpringerLink

  9. Überblicksartikel über Chronifizierungsmechanismen bei muskuloskeletalen Beschwerden (Entzündung, Sensibilisierung, Gefährdungsfaktoren) und Bedeutung funktioneller Ansätze. SpringerLink+1

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